Die Geschichte des Berner «Märit»

Man braucht nur einen Stadtplan und etwas Fantasie — und schon beginnt es rund um die Berner Altstadt zu blühen: Obstberg, Kleefeld, Rossfeld, Liebefeld, Brunnmatt, Spitzmatte, Rebacker, Hirschenacker, Mattenhof. Jahrhundertelang versorgten sich Bernerinnen und Berner aus ihren Hinterhöfen und von den Feldern, Wiesen und Äckern im Umkreis der Stadt.

Die Bauern des Umlands bauten vor allem Früchte und Gemüse an. Aber auch Erdbeeren aus dem Jura oder Kirschen aus dem Baselbiet fanden schon früh den Weg auf Berner Märkte. Käse und Milchprodukte kamen vor allem aus dem Oberland, Korn von den Flächen des Seelands, aus dem Berner Aargau oder aus der Waadt.

Wo war eigentlich der Berner Markt? Bern hatte keinen Marktplatz, Bern war ein Marktplatz. In der Hauptgasse: Früchte, Blumen und Gemüse. In der Kreuzgasse: Fisch. Beim Münster das Geflügel, in der Münstergasse das Fleisch und in der Hotelgasse zwischen Zytgloggeturm und Casino die Käseabteilung. Ein Spaziergang durch Bern war ein bisschen wie der Gang durch die Regale eines Supermarkts. Und zweimal im Jahr — an den grossen Messen an Ostern und im November — wurden auch Geschirr (beim Kindlifresser) und Holzwaren (am Waisenhausplatz) feilgeboten.

An den Markttagen versorgten sich die Menschen mit Essen, Neuigkeiten und sozialen Kontakten. Zwischen den Ständen wurde getratscht und palavert, und auch die Wirte machten ein gutes Geschäft. Wichtigster Markttag war traditionell der Dienstag, und an diesem kamen noch Anfang des 19. Jahrhunderts gut und gern tausend Fuhrwerke mit dreitausend Personen in die Stadt. In manch einer Schule im Berner Umland wurden dann die Klassen zusammengelegt, weil die Buben und Mädchen mit ihren Eltern «z’Märit» gingen anstatt zum Unterricht.

Grosse Veränderungen brachten Eisenbahn und Industrialisierung. 1860 fuhr in Bern — am heutigen Standort des Bahnhofs — der erste Zug ein. Nach und nach entwickelte sich die Stadt in die Fläche, Felder wurden überbaut. Einiges an Grünem zogen Arbeiterinnen und Arbeiter Ende des 19. Jahrhunderts zwar in den neu entstehenden Familiengärten (Schrebergärten). Berns grosser Gemüsegarten aber verschob sich immer weiter weg, und mit der Juragewässerkorrektion (das heisst dem Umleiten von Flüssen, dem Bau von Kanälen, der Regulierung der Seespiegel und dem Entwässern von Feldern im Raum Bieler-, Murten- und Neuenburgersee) rutschte er gar bis ins grosse Moos. Nun brachten an den Markttagen Extrazüge die Bäuerinnen und Bauern und ihre Güter in die Stadt.

Aber die Märkte erhielten auch Konkurrenz. 1881 wurde das Kaufhaus Loeb eröffnet, andere Geschäfte folgten, und 1914 boten bereits 61 Läden auch ausserhalb der Markttage alles für den täglichen Bedarf an.

Eine Notwendigkeit sind die Märkte heute eigentlich nicht mehr — aber ein Bedürfnis. Städterinnen und Städter versorgen sich zwar längst primär bei den Grossverteilern; produktemässig bieten diese alles und noch mehr. Ungestillt bleibt aber die Sehnsucht nach dem einfachen, sinnlichen und persönlichen Einkaufserlebnis der Vergangenheit. Diese Sehnsucht verhilft dem «Märit» heute zu neuer Blüte. Und inzwischen tauchen an den Ständen auch immer mehr Produkte aus der Stadt auf. Früchte, Gemüse, Kräuter, Honig: angebaut, gepflegt und geerntet in Bern. Urban Gardening sagen dem manche. Andere sagen: Der Kreis schliesst sich.

Bild: Markt auf dem Bundesplatz um 1940, Fotografie von Martin Hesse (1911 − 1968) (Burgerbibliothek Bern, FN.K.A 1047)