Die Geschichte des «Zibelemärit»

Ernsthaft: Ausserhalb Berns würde der Drang, mitten in der Nacht Zwiebeln kaufen zu gehen, therapeutisch behandelt. Aber das ist beim Verbrennen von Schneemännern, der kostümierten Katzenmusik oder dem Zerschlagen eines Schokoladenkessels nicht anders. Der «Zibelemärit» gehört zu Bern wie der «Böög» zu Zürich, die Fasnacht zu Basel und die Fête de l’Escalade zu Genf. Überhaupt muss man den «Zibelemärit» weder begreifen noch therapieren — sondern bloss mögen.

Nur schon die Käse- und Zwiebelkuchendüfte, die durch die Gassen schweben; die frühmorgendliche Novemberstimmung, die bissige Kälte, der süffige Glühwein. Dazu diese einzigartige Mischung aus Tradition und Anarchie. Mit grosser Sorgfalt werden die Zwiebelzöpfe geflochten, drapiert und aufgereiht — und mit grossem Übermut später Konfetti geschmissen und Gummihämmer geschwungen.

Jahrmärkte gab es in Bern seit dem Spätmittelalter jeden Frühling und Herbst. Zwar variierten die genauen Daten im Laufe der Jahrhunderte, aber ungefähr zu St. Martin (also um den 11. November herum) deckten sich Bernerinnen und Berner jedes Jahr für den Winter ein. Zwiebeln standen dabei lange Zeit nicht im Vordergrund, in den Quellen werden sie nicht einmal erwähnt. Aus einfachem Grund: Die tränentreibenden Vitaminbomben wurden ohnehin jeden Dienstag im Zibelegässli (zwischen Zytglogge und Brunngasse) verkauft.

Erst ab etwa 1850 begannen sie eine prominentere Rolle zu spielen, und zwar wegen der Marktfahrer vom Mont Vully. Die Freiburger brachten sie nämlich bereits am Tag vor der Martinimesse in die Stadt. Jene startete traditionell an einem Dienstag, die Vuillerains aber kamen bereits in der Nacht auf Montag nach Bern und präsentierten der Käuferschaft Kastanien, Nüsse, Bohnen, Endivien, Schwarzwurzeln und Meerrettiche. Und Zwiebeln. Diese arrangierten sie im Laufe der Jahre immer kunstvoller und üppiger, und 1892 verliess ein Zug mit 13 Waggons voller Zwiebeln den Bahnhof Murten in Richtung Bern. Man begann, von einem eigentlichen Zwiebelmarkt zu sprechen, und an diesem wurde das «Gstungg» (Gedränge) bald so heftig, dass sich die Obrigkeit 1927 genötigt sah, in den Lauben den Einbahnverkehr für Fussgängerinnen und Fussgänger auszurufen. Aber das Gedränge blieb.

Inzwischen war der «Zibelemärit» längst mit der Martinimesse verschmolzen. Bernerinnen und Berner machten ihre winterlichen Besorgungen längst in Warenhäusern, die ihre Produkte nicht nur für ein paar Novembertage anboten. Aber das bunte Treiben, die Schaustellerbuden, die Süssigkeiten, die Ausgelassenheit haben sich erhalten und sind Teil des «Zibelemärit» geworden.

Der ganze wild-fröhlich Schabernack hat überraschend tiefe Wurzeln. Konfetti beispielsweise haben ihre Vorläufer schon bei den alten Römern, die an Siegesparaden Getreide und Münzen in die Menge warfen. An Berner Jahrmärkten wurden ab etwa 1700 Nüsse aus Interlaken verschenkt. In Venedig wurden spätestens seit dem 19. Jahrhundert Süssigkeiten verteilt: Konfekt, das dem Konfetti seinen Namen gab und mit Sicherheit deutlich beliebter war als das juckende Spreu, das hierzulande früher gern in die Menge geworfen wurde.

Sogar der Brauch, andere Leute mit Gummihämmern zu schlagen, hat historische Vorläufer, und die sind im allerweitesten Sinne sogar kulinarischer Natur: An der Basler Fasnacht wurden noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts Menschen mit Schweinemägen oder Saublasen geschlagen. Gut möglich, dass es im Berner Jahrmarktstreiben ähnlich war. Zu diesem gehörten seit Jahrhunderten auch Schausteller, Gaukler und ihre Buden. Einst belustigten diese das Jahrmarktsvolk mit Wahrsagerei, Akrobatik oder Taschenspielertricks, später mit Menagerien, Panoramen, Wachsfiguren- oder Kuriositätenkabinetten und heute eben mit Karussells, Schiessbuden, Autoskootern und Achterbahnen.

In jüngster Zeit sind auch maskierte «Zibelegringe» unterwegs, die in diversen Lokalen das vergangene Jahr satirisch Revue passieren lassen. Sie wählen einen «Oberzibelegring» und ehren die Person dann auf einem Umzug durch die Stadt. Und auch das erst 1986 von der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft organisierte «Zibeleschwümme» ist bereits eine etablierte Teiltradition des «Zibelemärit». Dabei treffen sich stets Hunderte (Un-)Verfrorene am Schönausteg und schwimmen — oft kostümiert — gemeinsam die 350 Meter in der eiskalten Aare bis zum Marzili.

Aus verschiedenen Vorläufern hat sich heute ein Zwiebelmarkt entwickelt, der Fasnacht, Warenschau und Volksfest in einem ist — oder anders gesagt: wundervoll.

Bild: Impression vom Zibelemärit des Berner Fotografen Carl Jost, 1926 (Staatsarchiv des Kantons Bern, FN Fotograf D G 7)